Von Hamsterrad, Bumerang und Blesshühnern

23.02.2024

Bis ich von meiner Selbstständigkeit leben kann, ist es erforderlich, immer wieder auch einer angestellten Tätigkeit nachzugehen. Dabei habe ich im Laufe meines Lebens und dank vieler Ausbildungen und zahlloser Jobs wertvolle Erfahrungen gesammelt und weiß inzwischen ganz gut, was für mich funktioniert, und was nicht (mehr). Aktuell habe ich meine „Nische“ im Bereich der persönlichen Assistenz gefunden. Immer noch zu wenige kennen diesen Begriff - und wenn, dann wird er häufig der rechten Hand vom Manager zugeschrieben. Auch solch einen Job habe ich in meinem bunten beruflichen Leben ausgeübt, fällt aber nunmehr in die Kategorie „funktioniert nicht mehr für mich“.

Ich leiste persönliche Assistenz für Menschen mit Körperbehinderungen oder Erkrankungen, die häufig im (E-)Rollstuhl sitzen, und unterstütze sie bei einem selbstbestimmten Leben. In diesem Berufsfeld liest man gerne den für mich etwas abgegriffenen Satz „Als Assistent/in ersetzt du meine Arme und Beine, aber nicht meinen Kopf“, welcher aber im besten Fall sehr treffend ist, und Außenstehenden eine erste Idee dieser Tätigkeit geben kann. (Der Vollständigkeit halber, und weil die Frage oft aufkommt, sei angemerkt, dass es sich dabei um eine reguläre sozialversicherungspflichtige Beschäftigung handelt, die offiziell angemeldet und arbeitsrechtlich ganz normal behandelt wird.)

Schichtmodelle gibt es in dem Bereich viele, und ich habe sie inzwischen mehr oder weniger alle durch: 24h-Dienste (oder mehr am Stück), 12h-Dienste (Tag und Nacht), 3-Schichtsystem (ohne Nachtdienst), 2-Schichtsystem mit Nachtdienst. Zuletzt haben für mich am besten einzelne 24h-Dienste gepasst; damit habe ich mich einfach am wohlsten gefühlt. Vier 24h-Dienste sind in der Regel eine halbe Stelle, acht eine ganze. Somit bleibt viel Raum für eigene Projekte, Mußestunden, oder einfach nur Zeit, um zu sein, die Natur zu genießen, Gedanken und Ideen kommen (und manchmal auch wieder gehen) zu lassen, neue Hobbys zu entdecken und vieles mehr.

Aktuell mache ich eine Krankheitsvertretung, und jenes Schichtmodell beinhaltet kürzere Dienste, dafür jedoch viele Arbeitstage. Auch das hat seinen Reiz und jeder darf das für ihn oder sie passende Arbeitszeitmodell finden. Ich merke ganz deutlich, wie ich von jetzt auf gleich wieder in einem Hamsterrad bin, das ich in den letzten Jahren glücklicherweise nur selten noch gespürt habe, und dass es für mich einfach nicht mehr funktioniert. Gerade in Blöcken von vielen Diensten am Stück (beispielsweise sieben und mehr) habe ich das Gefühl, ich komme nach Hause, bereite mein Essen für den nächsten Dienst vor, schaue dass etwas Haushalt und persönliche Pflege geschafft wird auf körperlicher, geistiger und seelischer Ebene, kaufe ein, koche Essen, gehe schlafen ... und am nächsten Tag wieder von vorne.

Das war lange Jahre mein „Normal“. Und ich frage mich heute, wie ich es damals geschafft habe. Ich war damals ein anderer Mensch, und doch war ich ja die Gleiche.

Wie dem auch sei, es ist zeitlich begrenzt, das weiß ich. Jedenfalls in der Theorie. Es gab in den letzten zwei Wochen den ein oder anderen Tag, an dem ich einfach sehr erschöpft war, und Gedanken wie „Es ist ja nur für ein paar Wochen“ überrannt wurden von dem (nicht der Realität entsprechenden) Gefühl „Das ist jetzt mein Leben. So wird es immer weitergehen. Ich werde jeden Tag aufstehen, zur Arbeit fahren, nach Hause kommen, mein Brot schmieren, ausruhen und mit dem Rest an Energie irgendetwas geistig Nährendes für mich tun, schlafen gehen, und morgen wieder von vorne“. In manchen Momenten habe ich es nicht geschafft, aus dieser Spirale herauszukommen. Da bringen auch schöne Affirmationen nichts.

Manchmal haben wir solche Gedanken und Empfindungen. Es ist dann gerade einfach so, und je mehr wir uns in den Widerstand begeben, umso schlimmer wird es. Könnten wir es in dem Moment ändern, würden wir es ja anders sehen wollen. Ich werde nicht müde zu sagen, dass es so immens wichtig ist sich hinzugeben.

Sich dem hinzugeben, was gerade ist.

Wie man sich gerade fühlt.

Was gerade in einem los ist.

Das ist ok.

Drücken wir es weg oder lenken uns ab, kommt es mit doppelter Geschwindigkeit wie ein Bumerang wieder zurück. Das muss nicht direkt sein, aber das Thema wird uns noch einmal begegnen. Und auch das ist in Ordnung, wenn unser System vorübergehend etwas verdrängt, nicht hinschauen/-fühlen kann oder möchte. Dann ist es noch nicht Zeit dafür, da haben wir gute Selbstschutzmechanismen mit auf den Weg bekommen.

Wenn es jedoch möglich ist, hilft es enorm die Gefühle wirklich komplett zu fühlen, sie da sein zu lassen. Und zwar in dem Moment, in dem sie sich zeigen. Auch wenn es bedeutet, dass man sich, wie ich den einen Tag, mit wirklich letzter Kraft nach Feierabend zu einer Bank an einen See schleppt und in dem Moment nichts anderes machen kann als nur da zu sitzen, zu atmen, und vor Erschöpfung zu heulen. Ganz gleich, was das Ehepaar mit dem Dackel denken mag, das genau in dem Moment vorbeiflaniert.

Und dann gibt es Tage wie kürzlich, an denen ich frei habe, und wieder in meinen Flow kommen und mein Glas vollmachen kann. Der erste Gang nach dem Aufstehen: In die Natur. In meinem Fall bedeutete dies zu Fuß an den See (es hat mir so gefehlt) und dort gefrühstückt. Einfach nur da sitzen, mein Porridge essen, die vielen Blesshühner beobachten, wie sie unter Wasser nach Essbarem suchen und anschließend wie eine Boje mit einem nicht hörbaren „Plopp“ wieder auftauchen. Sehen, wie vereinzelte Möwen sich für den Landeanflug immer genau den Platz auf dem Wasser aussuchen, an dem zuuufällig gerade ein Blesshuhn schwimmt, und diesen Platz wie selbstverständlich einnehmen.

Immer wieder den wunderbaren Ruf der Wildgänse hören, die zwischen Wiese und See hin- und herfliegen. Durch ein rotes Kanu in der Ferne an einen Traum der vergangenen Nacht erinnert werden, den ich ganz wunderbar für mich deuten kann. Im Augenwinkel einen Mann sehen, der ein frisches Morgenbad im See nimmt. Mich etwas neidisch fühlen und dann daran denken, dass das auf jeden Fall eines der Dinge ist, die noch auf meiner „Bucket-List fürs Leben“ stehen: Eisbaden. Aber das ist dann eine andere Geschichte ...

In solchen Momenten bin ich wieder ganz ich selbst, ganz bei mir, ganz zufrieden, dankbar und glücklich. Mehr brauche ich dann nicht, und ich weiß, dass ich durch meine persönlichen Kraftquellen und mit etwas freier Zeit wieder schnell in meine Mitte kommen kann.




PS: Zum Thema „Gefühle wirklich fühlen und da sein lassen“ habe ich in einem früheren Newsletter schon einmal geschrieben. Du findest den Artikel hier, falls dich das Thema interessiert.