Warum ich Instagram (vorübergehend) den Rücken gekehrt habe
So lautete der Titel, den ich meinen Notizen gegeben hatte, als ich sie letztes Jahr in mein Handy tippte und wusste, dass ich sie irgendwann hier teilen würde:
Warum ich Instagram (vorübergehend) den Rücken gekehrt habe. Wobei wir die Klammern inklusive Inhalt weglassen können, denn ich habe Instagram den Rücken gekehrt. Es war ein Abschied in Etappen, wie es sich in manch einer Beziehung zeigt. Und ja, das mit Instagram war auch irgendwie wie eine Beziehung. Phasenweise eine Hassliebe. Man kann nicht immer gut mit, aber ohne geht es irgendwie auch nicht. (Also natürlich geht es ohne, und das ganz wunderbar, aber das ist eben der Sog, der einen immer wieder in das Geschehen zieht, wenn man erst einmal "drin" ist ...)
Instagram war sechs Jahre mein digitales Zuhause.
Ich habe es geliebt - und manches Mal auch verflucht (... oder vielleicht eher mich selbst?). Es war wie eine neue Welt für mich, in der ich mich erstmals so gezeigt habe, wie ich wirklich bin. Klingt irgendwie paradox in einer Welt, wo Social Media für "Fake" schlechthin steht, oder? Ich habe leise angefangen, zögerlich mich vorgetastet, anfangs jeden meiner 19 Follower gefeiert und an mir gezweifelt, wenn nach einem neuen Post einer weniger da war. Ich denke, das kennen wir alle irgendwie: "Bin ich nicht gut genug? War der Inhalt zu gewagt? Gefalle ich nicht mehr?" Instagram kann ein wunderbares Lernfeld sein - für sich selbst, aber auch in Bezug auf uns Menschen allgemein.
Nach kurzer Zeit standen unter meinen Posts Kommentare wie "Ich weiß genau, was du meinst" oder "Ja, das kenne ich auch!". Das war für mich eines der größten Geschenke, die Instagram mir machen konnte und gemacht hat: Ich wurde verstanden! Plötzlich hatte ich das Gefühl, wirklich verstanden zu sein. Ein Gefühl, das ich bis dahin offenbar nicht wirklich gespürt hatte. Und das von, bis dahin, wildfremden Menschen. Meine Erfahrung ist, dass es auf Instagram leicht ist, "seinen Tribe" zu finden. Menschen, die ähnlich ticken, ähnliche Ansichten haben oder mit denen man einfach irgendwie auf einer Wellenlänge ist.
Das Gefühl, verstanden zu sein, war für mich wie eine neue Welt, die sich offenbarte. Das Gefühl, mit allem, was ich bin und wie ich mich zeige, verstanden und gemocht zu sein, war zutiefst heilsam, hatte ich doch irgendwann im Laufe meines Lebens des Glaubenssatz abgeleitet: "Wenn ich sage, was ich wirklich denke, wenn ich zeige, was ich wirklich fühle, wendet man sich von mir ab, dann werde ich nicht mehr gemocht".
Ich wurde mutiger und lud zwei Jahre später das erste kurze Video von mir in einem Post hoch. Bilder von mir hatte ich zuvor auch schon gepostet, aber mich auf diese Weise zu zeigen, war eine neue Ebene für mich. Dass ich die kommenden Jahre wie selbstverständlich meine wirklich lieben und treuen Follower teilweise fast täglich in Stories an meinen Erlebnissen und Reisen teilhaben lassen würde, hätte ich zu dem Zeitpunkt wohl selbst nicht geglaubt.
Aber nicht nur diese Punkte waren hilfreich auf meinem Weg. Ich habe so unglaublich viele tolle Menschen kennenlernen dürfen, viele davon sogar persönlich getroffen, und mit einigen bin ich bis heute noch in Kontakt und teilweise sehr verbunden.
Abschied in Etappen
Die allermeisten, die Instagram nutzen, kennen wohl auch die leidlichen Aspekte, die Social Media, und in dem Fall Instagram, mit sich bringt. Ich erwähne nur kurz Stichworte wie "aktiviertes Belohnungssystem durch Herzchen", "Wo ist die Zeit hin, ich wollte doch nur kurz gucken!?", nicht mehr spazieren gehen zu können, ohne "in Instagram" zu denken ("Oooh, den Sonnenuntergang will ich gleich posten" oder "Zu der Szene kommt mir gerade ein inspirierender Gedanke, den teile ich gleich mal") usw.
Es ist kein Geheimnis, dass natürlich auch mit unserer psychologischen Anfälligkeit für bestimmte Dinge bewusst gespielt wird und der Algorithmus ein seeehr cleveres Kerlchen ist ... Vieles von dem läuft unter Manipulation, da brauchen wir uns nichts vormachen, und auch ich bin nur ein Mensch und in manchen Phasen war auch ich anfälliger für diese Dinge.
Ich habe gemerkt, wie mich Instagram immer mehr gestresst hat.
Zusätzlich dazu waren die folgenden Punkte bei mir ganz konkret der Anfang vom Ende, denn ich habe gemerkt, wie mich Instagram immer mehr gestresst hat:
- Ich bin jetzt etwa ein halbes Jahr raus und weiß nicht, wie es jetzt dort ist bzw. welche Funktionen schon wieder alle hinzugekommen sind. Das ist eigentlich auch egal und vermutlich werden es einige sein (sonst wäre Instagram nicht Instagram). Mir hat die generelle Entwicklung hin zu "Höher, Schneller, Weiter", bzw. "Bunter, überfrachteter, schnelllebiger" schon lange nicht mehr behagt, vielmehr hat es mich regelrecht überfordert. Ständig gab es neue Funktionen, und einfache schöne Bilder mit inspirierenden Texten haben schon lange nicht mehr genügt. Nach sogenannten "Stories" (kurze Videos, die nach 24 Stunden wieder verschwinden) kam mit den "Reels" die nächste Generation an bewegtem Bild. Um ehrlich zu sein, habe ich schon wieder vergessen, was der genaue Unterschied war, denn in beiden konnte man Texte einblenden, andere Nutzer verlinken oder sein Video musikalisch untermalen. Das ist doch wirklich spannend und irgendwie sehr begrüßenswert, dass diese Welt schon wieder so weit weg ist, dass ich mich wirklich bewusst konzentrieren müsste, um manche Details zu erinnern. Da hat das Gehirn schon wunderbare Arbeit geleistet und Wesentliches von Unwesentlichem sehr schnell getrennt. Aber zurück zu den Reels, bei denen ich gemerkt habe, hier ist meine Aufnahmegrenze erreicht. Denn - in Perfektion und durch einen kreativen Kopf unter Zuhilfenahme aller denkbaren Funktionen erstellt - waren sie für meine Sinne absolut überfordernd. Es gab nicht nur ein Video zum Anschauen - gleichzeitig wurden Texte gesprochen inklusive eingeblendeter Untertitel, plus musikalischer Begleitung. Das war für meinen Reizfilter einfach zu viel gleichzeitig. Meine Sinne wünschten sich Minimalismus und bekamen die volle Ladung Multitasking. Klar könnte man sagen: Du musst sie dir ja nicht anschauen. Es gibt auch ganz wundervolle Reels, die Balsam für meine digitale Seele sind. Das Problem ist: Man weiß ja vorher nie, was einen erwartet, wenn man in guter Absicht ein Video anklickt.
- Überinspiration kann nur mein eigenes Thema sein, aber ich könnte mir vorstellen, dass es ansatzweise auch anderen so geht. Es war ein - mit Abstand betrachtet - spannendes Phänomen. Eine Art Zerrissenheit bzw. aus meinem ganz persönlichen "Hier und Jetzt" Herausgerissensein. Ich muss dazu sagen, dass ich es liebe, zu inspirieren und inspiriert zu werden. Mein wacher Geist braucht Anregungen und den Austausch mit anderen, daraus ziehe ich ganz viel. Und so war Instagram, das möchte ich auch erwähnen, in ganz vielen Bereichen bereichernde Inspirationsquelle. Woran auch immer es lag, aber zuletzt war ich durch das, was andere gezeigt hatten, von meinem eigenen Leben abgeschnitten oder zumindest abgelenkt.* Ich habe gesehen, wie Menschen, denen ich folgte, auf Gili Air waren, und dachte "Och, das sieht aber schön aus da. Mich hat es bisher nie in Richtung Südostasien gezogen, aber da würde ich auch mal hin wollen." Andere nahmen uns Follower mit, wie sie gerade in Nordschweden ein rotes Schwedenhäuschen gekauft hatten, und wieder andere zeigten, wie sie als nahezu Selbstversorger in einer kleinen Holzhütte mitten in Deutschland lebten. Alles war so spannend und inspirierend, und in einer, der Begriff kommt mir gerade, "Instagram-Session" war ich binnen weniger Minuten erst auf einer Nachbarinsel von Bali am Strand, dann im Wald in Lappland und anschließend beim Einkochen von Ernteerträgen im autarken Gartenhäuschen. Alles wunderbar, aber für mein System zu viel. Ich war überall (und wollte am liebsten auch überall sein bzw. all das auch erleben) - nur nicht da, wo ich gerade wirklich war. Das meine ich mit "Herausgerissensein aus meinem ganz eigenen Hier & Jetzt".
- Eine Sache, die ich persönlich ebenfalls als eher anstrengend empfunden habe, war die Resonanz auf meine Stories. Nicht falsch verstehen, natürlich habe ich mich total gefreut, wenn Resonanz kam. Dass das, was ich gezeigt und mitgeteilt habe, für andere interessant und inspirierend war, das ist natürlich toll! Und in bestimmten Zeiten kam viel Resonanz. Das konnte in Form eines Herzchens ("Like"), eines anderen Emojis oder kürzeren bis längeren Privatnachrichten auf einzelne Storieteile erfolgen. Der Haken dabei, und daran habe ich wirklich lange geknabbert: Wenn ich etwas teile, teile ich es aus dem Moment heraus. Ich plane keine Posts oder terminiere Beiträge, bereite Stories vor oder lasse Inhalte zu bestimmten Zeiten erscheinen. Wenn mir danach ist zu posten, dann poste ich. Sei es ein Beitrag oder eine Story. Das ist für mich echt und authentisch, denn nur in dem Moment bin ich auch genau in dem Gefühl, in den Gedanken, in der Erfahrung, die ich teilen möchte. Das bedeutet aber auch, wenn ich es geteilt habe, geht mein Leben ja natürlich weiter. Und somit meine Erfahrungen, Gedanken, Emotionen usw. Da natürlich nicht jeder auf den Punkt meine Story geschaut hat, wenn ich sie veröffentlicht habe, sind Reaktionen darauf auch bis zu 24 Stunden danach reingerieselt. Ich habe noch nie Push-Mitteilungen aktiviert, bei keiner App auf meinem Handy, aber dennoch habe ich natürlich auch zeitnah immer mal wieder reingeschaut, wenn ich gerade sehr aktiv war und viel gepostet hatte. Ich selber war also schon - für meine Verhältnisse - längst aus dem Moment wieder heraus, aus dem heraus ich etwas geteilt hatte, aber für das Gegenüber war es natürlich "jetzt", in dem Moment, in dem sie es geschaut haben. So wurde ich durch die zeitversetzten Reaktionen - und darauf möchte ich hinaus - immer wieder in den alten Moment des Teilens zurückversetzt, obwohl er für mich faktisch schon vorbei war. Vielleicht versteht ihr, wie ich meine? Energetisch war das für mich höchstanstrengend, weil ich immer wieder hin- und hergezogen wurde zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen dem Befinden, in dem ich mich jetzt gerade gefühlt habe, und dem, in dem ich zum Zeitpunkt der Story war.
- Last but not least ein vielleicht etwas handfesterer Punkt, den der eine oder die andere möglicherweise leichter nachvollziehen kann oder gar von sich selbst kennt: Ich habe an mir selbst Dinge bemerkt, die mir nicht gefallen bzw. mich zum Teil auch erschrocken haben in meinem Nutzerverhalten. Da war zum Beispiel der Aspekt des sinnfreien Herumscrollens, und das kennt wohl vermutlich wirklich fast jeder Social Media-Nutzer. Aber auch, und das fand ich viel bezeichnender und einer der Momente, die mich wirklich haben aufmerksam werden lassen: Durch all die kurzen, schnellen Storys und Reels auf Instagram war mein Gehirn an die schnellen, abwechslungsreichen (und völlig überfordernden) Bilder so daran gewöhnt, dass ich bei "langsameren" (= normal schnellen!) Videos auf youtube fast schon unruhig wurde, wenn die Kamera relativ lange auf bestimmte Naturszenen gehalten hat oder der "Kameraschwenk" für mein (verzerrtes) Empfinden zu langsam voranging. Ich dachte nur "Wann kommt endlich die nächste Szene?" und konnte wunderschöne Naturszenen in youtube-Videos überhaupt nicht mehr genießen, weil mein Gehirn unnatürlich gepusht war durch den häufigen Konsum von unnatürlich schnellen und überfrachteten Videos auf Instagram. Das fand ich sehr erschreckend und hat mich als absoluten Naturmenschen gleichzeitig sehr traurig gemacht. Ich glaube, das war der Beginn der Entwöhnung bei mir.
Zusammengefasst noch einmal die Punkte, die mich am Ende von Instagram haben lösen lassen, weil sie mir einfach nicht gut getan haben:
- Überforderung der Sinne durch Höher-Schneller-Weiter-Entwicklung
- Überinspiration
- Rausgeworfen sein aus meinem jetzigen Moment
- eigenes erschreckendes User-Verhalten
Und jetzt? Wie lebt es sich ohne Instagram?
Erstaunlich gut.
Ich bin überzeugt, dass es nichts bringt, sich rein vom Verstand her von etwas lösen zu wollen. Wenn man wirklich bereit (oder nicht mehr bereit ;) ) ist, kommt der Impuls von ganz tief innen, und ist dann so ruhig und deutlich, dass es keine andere Wahl gibt.
Auch bei mir war es ein Prozess, bei dem ich immer im Einklang mit meiner inneren Stimme gegangen bin. Und es gab sicher Zeiten in den letzten Jahren, in denen sich Instagram völlig natürlich und als ein Teil meines Alltages, meines Lebens angefühlt hat. Und das war in Ordnung! Ich bin dankbar für alles, was ich dadurch kennenlernen durfte und welche wundervollen Menschen ich kennengelernt habe - sei es rein virtuell, oder auch "in echt".
Mein etappenweiser "Ausstieg" bei Instagram, ohne dass ich es so geplant hätte, verlief meiner persönlichen natürlichen Entwicklung entsprechend so:
Mai 2023: Ich bin übersättigt und voll von Instagram und all den bunten und reizüberflutenden Bildern und Videos und poste vorerst das letzte Mal aktiv.
Mai bis November 2023: Ich nutze Instagram weiterhin regelmäßig, poste aber selbst nichts mehr, und finde es ganz entspannend und ok, nur passiv zu konsumieren.
November 2023: Gegen Ende habe ich immer häufiger bemerkt, wie ich wahllos "herumdaddel" um des "Herumdaddelns" Willen. Wie ich lustige, schöne, traurige und berührende Videos anschaue und damit meine Kontakte zuspamme. Stopp. Das erste Mal seit Beginn meiner Zeit dort lösche ich die App vom Handy.
Februar 2024: Ich schreibe seit Ewigkeiten mal wieder einen Post, mehr ein Lebenszeichen an die lieben Menschen, die mich so lange begleitet und einen Teil meines Lebens mit mir verbracht haben, ja, so kann man es fast sagen. Es fühlt sich seltsam vertraut und gleichzeitig fremd an, wieder dort zu sein. Ich vermeide es mich großartig umzuschauen und es fällt mir erstaunlich leicht, bei mir zu bleiben und mich nicht in alter Social Media-Manier direkt aus meiner eigenen Mitte heraus und in die Welten anderer mitreißen zu lassen. Das etwas andere Layout über den Browser macht es mir leicht, und entspannt logge ich mich wieder aus.
November 2023 bis April 2024: Ich vermisse die App nicht und habe auch keine "Rückfalltendenzen" wie ich es von vielen schon gehört habe: App löschen, App wieder aufspielen, App löschen, usw. Weil ich mit zwei, drei Menschen noch über Privatnachricht in Kontakt war und teilweise noch Dinge zu Ende besprochen werden mussten, habe ich mich in dem Zeitraum wenige Male über den Browser vom Laptop aus eingeloggt. Und jedes Mal war ich froh, wenn ich schnell wieder "raus" konnte aus dem summenden und schwirrenden Bienenschwarm.
April 2024: Da "Ja" kommt nun ganz deutlich und ohne großes Tamm-Tamm. Ich beantrage (ja, ihr lest richtig, man muss es beantragen) die Löschung meines Accounts. Natürlich werden mir vier Wochen eingeräumt, bis er final gelöscht wird. In der Zeit könnte ich es mir jederzeit anders überlegen und durch das erneute Einloggen die Löschungsanfrage nichtig machen. Klar, Social Media hält die Hintertür jedem auf, der irgendwie gehalten werden kann. Für mich ist das Kapitel erst einmal beendet. Ich möchte gar nicht ausschließen, vielleicht irgendwann noch einmal ein neues Profil dort zu erstellen. Aber aktuell sehe ich es nicht. Was ich mit meinem Zweitkanal @alltagsherzen mache, weiß ich noch nicht. Derzeit ruht er eher.
Viele Jahre habe ich die Menschen an meinen Erlebnisse und Reisen teilhaben lassen. Der Ruf nach weniger Präsenz auf Social Media kam leise, aber klar. Es war ein Abschied in Etappen, aber die innere Ruhe, die sich dadurch wieder eingestellt hat, ist so ein wunderbar-vertrautes und lange verlorenes Gefühl, das ich gerade mit keinem Socia Media-Profil der Welt eintauschen möchte.
* Mir kam da übrigens ein spannender Gedanke. Im Human Design ist mein sogenanntes Kopfzentrum "offen". Ich glaube, ich habe es durch diese Erfahrung mit Instagram ganz deutlich erleben dürfen. Spüren wie es sich anfühlt, wenn man so offen für Inspirationen und dergleichen ist, dass man leicht von seinem eigenen Fokus abgebracht wird. Vermutlich war es genau das, was ich mit "von meinem eigenen Leben abgelenkt" meinte.
PS: Per "Zufall" bin auf diesen Blogartikel gestoßen und bin damit sehr in Resonanz gegangen. Zugleich war ich erstaunt, wie viele Parallelen, ja teilweise gleiche Wortwahl es zu unserer Erfahrung mit Instagram gibt.